Wanderung Perly-Genève
Vom Kulturkampf zur Bieridee
Wanderzeit: 3 h 25 min
Schwierigkeitsgrad: T1 Wandern *
Saison: Ganzjährig begehbar
Die Wanderung entlang des Flüsschens Aire führt von der Landesgrenze ins Zentrum von Genf. Das Ziel ist der vom Verkehr umtoste Hauptbahnhof Genève-Cornavin; nebenan liegt mit der Kathedrale Notre-Dame eine Oase der Stille. Um den ersten Pfarrer der Wallfahrtskirche tobte im 19. Jahrhundert ein heftiger Konflikt, der sich sogar im Getränkemarkt niederschlug. 60% der Strecke verlaufen auf Asphalt.
Detaillierte Routenbeschreibung
Jean Calvin leistete gründliche Arbeit. Der Reformator setzte in Genf eine strenge Form des Protestantismus durch und brachte es zustande, dass in der Stadt lange Zeit keine katholischen Messen mehr gelesen werden durften. Nach fast dreihundert Jahren aber kam es zu einem abrupten Umschwung. Im revolutionären Frankreich wurde zunächst die Trennung von Kirche und Staat vollzogen und danach sogar das Christentum per Dekret abgeschafft. Doch dann trat Napoleon auf den Plan und erkannte, dass er seine Macht durch ein Konkordat mit dem Papst stärken konnte. Auf vertraglicher Basis wurde 1801 im französischen Herrschaftsgebiet, zu dem damals auch Genf gehörte, formell die Religionsfreiheit eingeführt. Die Stadtbehörden waren dadurch verpflichtet, eine erste katholische Kirche auf Stadtgebiet (Saint-Germain) zu tolerieren.
Weil das Kirchlein bald an seine Kapazitätsgrenzen stiess, wurde ein halbes Jahrhundert später ausserhalb der Altstadt die Kathedrale Notre-Dame gebaut. Sie kam allein auf leerer Flur am Rande des Quartiers Cornavin zu stehen. Seither hat sich das Stadtgebiet dort stürmisch entwickelt. Heute tobt vielspurig der motorisierte Verkehr rings um den kleinen Park, in dem die Kirche steht. Umso eindrücklicher ist die Stille, die einen umfängt, wenn man vom angrenzenden Hauptbahnhof her kommend die Autokolonnen, die heulenden Motorräder und die dahinsausenden Stadtbusse hinter sich lässt und durch die Kirchenpforte tritt.
Die Bauzeit der Kathedrale (sie wurde 1857 erstmals genutzt) fiel in eine kurze Zeit des Tauwetters. In Genf hatte man nach dem Sonderbundskrieg den religiösen Minderheiten kostenlos Land für Kultbauten zur Verfügung gestellt. Die katholischen Kantone hatten allerdings ihre Niederlage nicht verdaut und versuchten, die Machtverhältnisse im jungen Bundesstaat mehr oder auch weniger diskret zu ihren Gunsten zu wenden. Die Auseinandersetzungen eskalierten alsbald zum sogenannten Kulturkampf. Im Kern ging es dabei um die Frage, wer in kirchenpolitischen Fragen das Sagen hat: die weltlichen Behörden oder der Vatikan?
Auch die Genfer Kathedrale geriet mitten in diesen Sturm. 1864 ernannte der Papst den dort tätigen Pfarrer Gaspard Mermillod zum Weihbischof der Diözese Freiburg-Lausanne-Genf und sieben Jahre später zum apostolischen Vikar von Genf, was als erster Schritt zur Schaffung eines eigenständigen Bistums Genf gedeutet wurde. Die Genfer Behörden stuften dies als Provokation ein und stellten Mermillod mit Polizeigewalt an die Grenze. Die Kathedrale wurde zunächst geschlossen und dann in die Hände der christkatholischen Glaubensgemeinschaft übergeben. Erst 1912 ging sie wieder in den Besitz der katholischen Pfarrei über.
Und Mermillod? Dieser konnte 1883 in die Schweiz zurückkehren. 1890 erhielt er vom Papst die Kardinalswürde. Aus diesem Anlass brachte die Freiburger Brauerei Blancpain ein Festbier unter dem Namen «Cardinal» auf den Markt, das in der Öffentlichkeit so gut ankam, dass beschlossen wurde, den neuen Namen auf die Brauerei selbst zu übertragen.
Notre-Dame ist auch eine Wallfahrtskirche. Das eigentliche Pilgerziel ist eine Marienstatue aus weissem Marmor, die in der Apsis vorne in der Kirche steht. Gaspard Mermillod hatte sie während einer Romreise vom damaligen Papst persönlich als Geschenk erhalten. Genf beherbergt zahlreiche internationale Organisationen, bei denen Menschen aus aller Welt tätig sind. Dank der zentralen Lage zieht die Kathedrale beim Bahnhof Cornavin deshalb Gläubige vielfältiger Herkunft an (beredtes Zeugnis dafür ist die Informationsschrift, die beim Eingang in 15 verschiedenen Sprachen aufliegt). Die meisten von ihnen pilgern mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Notre-Dame. Eine Wallfahrt dorthin lässt sich jedoch ohne weiteres auch zu Fuss unternehmen, beispielsweise der Aire entlang.
Das Flüsschen entspringt in der Nordflanke des (in Frankreich liegenden) Genfer «Hausbergs» Salève und gilt eigentlich als das am stärksten verbaute und durch menschliche Einflüsse beeinträchtigte Fliessgewässer des Kantons. Von den rund zehn Kilometern, welche die Aire auf Schweizer Gebiet durchläuft, wurde seit den 1920er-Jahren in mehreren Etappen mehr als die Hälfte kanalisiert und teilweise sogar überdeckt. Seit einigen Jahren verfügt der Flusslauf jedoch wieder über ein deutlich natürlicheres Gesicht, wurde er doch auf einer Länge von mehr als vier Kilometern umfassend revitalisiert.
Schweizer Boden erreicht die Aire am Rand der französischen Stadt St-Julien. Die nächstgelegene ÖV-Haltestelle befindet sich beim Grenzübergang Perly. Auf asphaltierten Nebensträsschen geht es zunächst durch Rebgebiet sowie an Wiesen und Ackerland vorbei. Sobald man das Flüsschen erreicht, wechselt der Bodenbelag auf Kies. Je nach Wetterlage führt die Aire nur wenig Wasser. Es kann daher durchaus vorkommen, dass das Flussbett nahezu ausgetrocknet ist. Immerhin setzen Auenwäldchen, Hecken und Wiesen einige schöne natürliche Akzente in die Landschaft. Der als Naherholungsgebiet dienende Uferbereich ist mit etlichen Rastplätzen und Feuerstellen ausgestattet.
Via Pont de Lully gelangt man zum Pont du Centenaire. Von da an muss man für eine Weile mit Quartiersträsschen abseits des Flusslaufs Vorlieb nehmen. Umso reizvoller ist die Strecke zwischen Grand-Lancy und Petit-Lancy. Die Aire fliesst hier frei und unverbaut durch ein bewaldetes Tobel. Bei Pont-Rouge ist allerdings endgültig Schluss mit Natur. Ab hier bis zur Mündung in die Arve ist der Fluss in einen unterirdischen Kanal verbannt, die Uferwanderung wird vollends zur Stadtwanderung. Diese ist allerdings nicht ohne Reiz. Über eine lange Treppe steigt man zur Promenade Nicolas Bouvier auf und gelangt durch mehrere Stadtparks mit Spiel- und Rastplätzen zum Viaduc de la Jonction. Von der Brücke hat man eine eindrückliche Sicht auf den Zusammenfluss der meist blaugrün schimmernden Rhone mit der Arve, deren Wasser oft einen graubraunen Ton aufweist. Über die Avenue du Devin-du-Village, die Rue de Saint-Jean und die Rue des Délices geht es zur Rue de Lyon, die einen direkt zur Gleisunterführung beim Hauptbahnhof und damit zur Kathedrale Notre-Dame führt.