Wanderung Bramois-Euseigne
Durch die wilde Schlucht der Borgne
Wanderzeit: 4 h 10 min
Schwierigkeitsgrad: T2 Bergwandern *
Saison: Mai - November
Die Schlucht der Borgne zwischen Bramois und Euseigne ist eines der wildesten Täler des Wallis. Trotzdem lässt sich der Einschnitt auf einem Wanderweg durchqueren. Der Pfad führt durch eine einsame, spektakuläre Landschaft. Eine Einsiedelei, Thermalquellen und urtümliche Felsformationen säumen die Route. Ausserhalb des Siedlungsgebiets verläuft die Wanderung praktisch ausschliesslich auf Naturwegen.
Detaillierte Routenbeschreibung
Wie mag jemand bloss auf die Idee kommen, an einem solchen Ort zu leben? Diese Frage stellt sich wohl nicht wenigen Wanderern, die nach Longeborgne gelangen. Die Einsiedelei klebt am Fuss einer senkrechten Felswand an einer schmalen Geländestufe. Darunter öffnet sich ein Abgrund, der aussieht, wie wenn ein Riese mit einer gewaltigen Axt ziellos eine Kerbe in den Berg zu hauen versucht hätte.
Von der Ebene des Rhonetals bei Sion springen die Höhenkurven in dichter Kadenz zu den Drei- und Viertausendern, die das Val d’Hérens umgeben. Entsprechend steil sind die Flanken des Seitentals. An jenen wenigen Stellen, wo das Gelände ein bisschen weniger jäh abfällt, schmiegen sich kleine Dörfer in die Hänge. Der Talboden selbst ist unbesiedelt, denn hier regieren die Wildwasser der Borgne und ihrer Seitenbäche. Durch jahrtausendelange Erosion haben sie eine weite, urwüchsige Schlucht geschaffen, die auf den ersten Blick völlig unwegsam aussieht.
Allerdings sind die Fluten heute halbwegs gezähmt, denn das Wasser der Borgne wird zu einem grossen Teil dem Kraftwerksystem der Grande Dixence zugeleitet. Zudem erweist sich die Topografie bei genauerem Hinsehen nicht als durchwegs abweisend. Tatsächlich zieht sich nämlich ein Wanderweg dem Wildbach entlang durch die Schlucht.
Felshöhlen hoch über dem Eingang zu dieser grossartigen Wildnis haben den Menschen der Gegend im Mittelalter bei Kriegsgefahr als Zufluchtsort gedient. 1522 errichteten Franziskanermönche dort eine Klause, ihnen folgten später Kapuziner, seit 1924 untersteht die Einsiedelei dem Benediktinerorden. Die Anlage umfasst zwei direkt aneinander angrenzende Kapellen sowie Schlaf- und Aufenthaltsräume. Zum Anwesen gehört auch ein kleiner Rebberg hoch über dem Abgrund.
Die eine der beiden Kapellen ist «Unserer Lieben Frau von den Sieben Schmerzen» geweiht, die andere dem Heiligen Antonius von Padua. Weil die zwei Sakralräume nur wenige Dutzend Sitzplätze bieten, wird oft auch der kleine Vorplatz in die zur Frühlings- und Sommerzeit durchgeführten, meist sehr gut besuchten Messen einbezogen.
Longeborgne gilt seit Jahrhunderten als einer der bedeutendsten Wallfahrtsorte des Unterwallis. Im Laufe der Zeit haben unzählige Gläubige Votivtafeln gestiftet, die teilweise sehr aufwändig und farbenfroh gestaltet sind. Die Wände der beiden Kapellen sind grossflächig damit bedeckt. Besonders häufig treten Sujets auf, die eine Erhörung von Gebeten nach Kinderwunsch bezeugen.
Die Einsiedelei erreicht man auf einem Kreuzweg, der kurz nach dem Restaurant Des Pèlerins etwas oberhalb von Bramois beginnt. Das erste Teilstück ist gleichzeitig der Einstieg zum Schluchtweg durch das Tal der Borgne. Bei der sechsten Station («Veronika reicht das Schweisstuch») zweigt der Kreuzweg hangwärts ab und führt knapp 50 Höhenmeter steil aufwärts zur Klause. Auf gleicher Strecke kehrt man danach wieder zum Schluchtweg zurück.
Ein gut ausgebauter, zuweilen aber eher schmaler Fussweg führt nun etwas oberhalb des Wildbachs weiter taleinwärts. Einzelne etwas exponierte Passagen sind hangseits mit Stahlketten gesichert. Nach einer Weile gelangt man auf einem Steg hinüber auf die Westseite der Borgne. Nun geht es kurz, aber steil hinauf nach Plan des Biolles. Der Weg verengt sich weiter, die Landschaft wird noch rauer und urtümlicher. Schroffe Felswände und mächtige Tannen prägen das Gesicht der Gegend. Konsequenterweise ist der Pfad auf dem Teilstück, das über Plan du Moulin bis zur Verzweigung bei Pkt. 714 führt, als Bergwanderweg signalisiert. Der Abschnitt braucht Zeit und ist anstrengend, denn dicht aufeinander folgen zahlreiche Auf- und Abstiege.
Ironischerweise folgt die heikelste Passage der Tour erst kurz nach dem Ende der weiss-rot-weiss gekennzeichneten Strecke. Es handelt sich um die Querung des Wildbachs Corniolla; der Weg wurde bei einem Murgang teilweise weggeschwemmt, so dass man das Bachbett nur auf improvisiertem Trassee passieren kann (Stand Sommer 2022).
Schon bald aber mündet der Wanderweg in ein Kiessträsschen. Der Talboden wird breiter, erste Weiden und Scheunen tauchen auf. Für eine Weile wird die Schluchtwanderung zu einem Spaziergang, der direkt dem Flüsschen entlang verläuft. Etwas weiter taleinwärts gelangt man nach Combioula. Aus insgesamt 81 Thermalquellen am Hangfuss strömt dort bis zu 29 Grad warmes Wasser aus dem Boden. Auf seiner jahrzehntelangen Reise durch den Untergrund hat es sich mit Schwefel und anderen Mineralien angereichert, was ihm einen deutlich wahrnehmbaren Geruch von faulen Eiern verleiht. In einem kleinen Becken auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses lässt sich ein erfrischendes Bad nehmen.
Einer weiteren, noch wesentlich eindrücklicheren geologischen Besonderheit begegnet man zum Abschluss der Wanderung. Die Pyramiden von Euseigne sind am Ende der letzten Eiszeit entstanden, als sich Sand und Lehm unter hohem Eisdruck zu einer sogenannten Betonmoräne verdichtete, einem sehr harten und kompakten Material. Im Laufe der Zeit wurde dieses gleichwohl durch Erosion teilweise abgetragen. Wo die Moräne von Findlingen bedeckt war, trotzte sie dem Abbau. Dadurch entstanden im Laufe der Jahrtausende bizarre, bis zu 15 Meter hohe Felstürme. Die Pyramiden werden von einem kurzen Tunnel der Kantonsstrasse durchstossen und lassen sich gut von dort einsehen. Noch eindrücklicher ist der Anblick von einem schmalen Fussweg, der als «Chemin des pyramides» ausgeschildert ist. Er führt unterhalb des Dorfs dem Hang entlang bis zu einer Geländekante, wo das Trassee wegen eines Erdrutsches endet; die Rückkehr ins Dorf erfolgt auf gleichem Weg.