Wanderung Fuldera - Valchava - Sta. Maria - Müstair
Mahnmale des Überlebens
Wanderzeit: 2 h 50 min
Schwierigkeitsgrad: T2 Bergwandern *
Saison: Mai - Oktober
Einer der ältesten Wallfahrtsorte der Schweiz liegt im Val Müstair. Das Marienbild im Kloster St. Johann geht auf ein dramatisches Ereignis im 9. Jahrhundert zurück. Nach der Sage überlebten Karl der Grosse und seine Frau nur knapp einen Schneesturm. Zum Dank stifteten sie ein Kloster und eine Kapelle. Die Talwanderung von Fuldera nach Müstair verbindet die beiden Stätten. Sie verläuft zu drei Vierteln auf Naturwegen.
Detaillierte Routenbeschreibung
War es Leichtsinn, Pech – oder am Ende gar die Rache der Feinde? Nachdem er das Volk der Langobarden unterworfen hatte, geriet Karl der Grosse mit seinem Gefolge auf dem Rückweg über den Umbrailpass in einen heftigen Schneesturm. Nur mit Mühe und Not entrannen der Frankenkönig und sein Gefolge dem Unwetter. Zum Dank gründete er am nördlichen Fuss des Passübergangs das Kloster Son Jon (St. Johann); seine Frau stiftete unweit davon eine Kapelle. Im Laufe der Zeit entstanden rund um die beiden Bauwerke die Dörfer Müstair und Sta. Maria.
Die Kapelle «Unsere Liebe Frau von Santa Maria» entwickelte sich alsbald zu einem Wallfahrtsort, der nicht nur von Pilgern aus der Umgebung, sondern auch aus Tirol und aus dem Veltlin aufgesucht wurde. Daran änderte auch die Reformation nichts. Das Val Müstair trat zwar mehrheitlich zum protestantischen Glauben über, die Wallfahrtskirche wurde jedoch weiterhin auch von der katholischen Minderheit und ihrem Priester für ihre Messen genutzt.
Das friedliche Einvernehmen endete 1620 jäh, als die Habsburger grosse Teile Graubündens besetzten. Der reformierte Pfarrer von Sta. Maria wurde erschossen, den Protestanten verbot man die Benutzung der Kirche. Diese wiederum revanchierten sich, indem sie sämtliche katholischen Kultgegenstände in den Talfluss Rom warfen. Ein Teil davon konnte weiter unten von Südtirolern aus der Etsch gefischt werden. Das Gnadenbild indessen war verloren und musste durch eine Neuanfertigung ersetzt werden.
Unter dem Druck des habsburgischen Gegenspielers Frankreich wurde schliesslich ein Vertrag ausgehandelt, der eine Nutzung der Kirche sowohl durch Protestanten als auch durch Katholiken gewährleistete. Die Vereinbarung sollte gelten, solange es in Sta. Maria katholische Bürger gebe. Dieser Passus zeitigte entsetzliche Nebenwirkungen: Schon bald versuchten reformierte Kreise, die Katholiken auszumerzen, indem sie deren Kinder ins Engadin entführten, wo sie protestantisch erzogen und konfirmiert wurden. Die Katholiken zahlten es ihnen mit gleicher Münze heim und verschleppten protestantische Kinder zwecks Umerziehung in den nahen Vinschgau.
1837 verstarb die letzte katholische Einwohnerin von Sta. Maria; die Dorfkirche verlor dadurch ihren Status als Simultankirche. Alle fünf Dörfer im oberen Teil des Tals galten nun als reformiert. Das nahe an der Grenze zu Südtirol (das damals Teil von Österreich-Ungarn war und heute zu Italien gehört) liegende Müstair hingegen blieb katholisch. Am 24. Februar 1838 wurde das Marienbild von Sta. Maria im Rahmen einer grossen Prozession mit mehreren tausend Teilnehmenden in die Klosterkirche von Müstair überführt. Seither ist es in deren südlicher Seitenkapelle untergebracht. An der gegenüberliegenden Wand werden durch figürliche, bildliche und schriftliche Votivobjekte zahlreiche Heilwirkungen bezeugt.
Innerhalb des Val Müstair gibt es aufgrund der konfessionellen Gegebenheiten schon seit bald 200 Jahren keine Wallfahrt mehr – die Pilger reisen von jenseits des Ofenpasses oder aus Südtirol an. Der Besuch des Klosters Son Jon lässt sich natürlich dennoch mit einer schönen Wanderung verbinden. Einfach und mit wenig Anstrengung verbunden ist etwa die Route «A la riva dal Rom», die dem Talflüsschen Rom entlangführt. Das zum grossen Teil unverbaute Gewässer fliesst durch malerische Auenwälder, die allerdings oft die Aussicht einschränken. Wer mehr vom Tal sehen will, unternimmt eine Talwanderung an etwas erhöhter Lage. Sie führt durch Tannen- und Lärchenwälder, quert Weideland und verläuft später dem Rom entlang.
Am Ausgangspunkt Fuldera fallen verschiedene Wohnhäuser im traditionellen Engadiner Baustil auf, die mit Fassadenmalereien verziert sind. Zum Auftakt lohnt es sich, der Dorfkirche einen Besuch abzustatten. Als reformierte Kirche ist sie typischerweise schlicht gestaltet. Während des Ersten Weltkriegs war sie für kurze Zeit Wirkungsstätte des Schriftsteller William Wolfensberger, der sich neben seinem Amt als Pfarrer auch als Gemeindepräsident, Kassier und zeitweilig sogar als Dorflehrer engagierte.
Auf einem Kiessträsschen wandert man sanft absteigend talauswärts. Nach etwas mehr als einer halben Stunde gelangt man zu einem Biotop mit zwei kleinen Teichen. Bei der kurz danach folgenden Wegverzweigung verlässt man die als Jakobsweg gekennzeichnete Route und schwenkt auf ein Asphaltsträsschen ein, das an den Dorfrand von Valchava führt. Am Waldrand steht ein restaurierter historischer Kalkbrennofen, der dem Gebiet seinen Namen gegeben hat: Chalchera. Dort liegt auch ein idyllischer Rastplatz mit Feuerstelle. Über die beiden Wildbachtobel der Aua da Vau und der Aua da Mot geht es zum Döss da las Levras (Hasenrücken), von wo sich eine prächtige Aussicht nach Sta. Maria und zum unteren Teil des Val Müstair öffnet.
Nach dem Abstieg zur Dorfkirche von Sta. Maria geht es durch das (vom Durchgangsverkehr arg gebeutelte) Dorf an den Rom. Von nun an verläuft die Wanderung auf dem Uferweg dem Talfluss entlang. Besonders hübsch ist der erste Abschnitt. Ein schmaler Fusspfad zieht sich dort durch schönen Auenwald. Rechts rauscht der unverbaute Fluss, links gurgeln kleine Seitenbäche. Später wandert man auf Kiessträsschen, beim Campingplatz Müstair auch eine Weile auf Asphalt. Die Wanderung endet beim Kloster Son Jon.
Das Kloster gilt als bedeutendster frühmittelalterlicher Kirchenbau der Schweiz. Gegründet wurde es als Männerkonvent, seit dem 12. Jahrhundert wird es von Benediktinerinnen bewohnt. Die Klosteranlage umfasst Bauwerke aus verschiedenen Epochen. Die ältesten Objekte sind die Klosterkirche und die benachbarte Heiligkreuzkapelle, die beide aus der Karolingerzeit stammen. Einzigartig sind die teilweise über 1200 Jahre alten Wandmalereien in der Klosterkirche. Zum Bestand gehören unter anderem der grösste und besterhaltene Freskenzyklus aus dem Frühmittelalter sowie mehrere auffallend farbenfrohe spätromanische Malereien.