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Der Wander-Rebell
10. November 2023

Der Wander-Rebell

Sie fallen etwas aus dem Rahmen, die Wanderungen, die der Künstler San Keller gelegentlich organisiert. Für seine Touren wählt er weder bekannte Ausflugsziele noch sonnige Sommertage. Stattdessen durchquert er «Distributionslandschaften». So nennt er Gebiete, die von Industrie und Logistik geprägt sind. Seine Expeditionen erfolgen jeweils nachts im Spätherbst und Winter.
Dieses Jahr ist Keller im Wallis unterwegs: In sechs Etappen geht es von Brig bis an den Genfersee. Der Start erfolgt jeweils um 23.55 Uhr, dann wird mit Pausen gewandert, bis man am Zielort den ersten Zug besteigt. Das Konzept ist somit simpel, aber zugleich ein bisschen subversiv. Das war auf der ersten Etappe (Brig-Raron) deutlich spürbar. Wir marschierten zunächst stundenlang auf dem Rotten-Uferweg – eine Strecke, die Wanderer normalerweise meiden, da sie durchwegs asphaltiert ist. Nachts aber vermittelte der Hartbelag eine gewisse Sicherheit, denn die einzigen spärlichen Lichtquellen waren die Flutlichtlampen des Rangierbahnhofs auf der gegenüberliegenden Flussseite. Mit ihrer Blendwirkung verbesserten sie die Sicht kaum, sondern behinderten sie eher.
Geradezu gespenstisch war danach das riesige Lonza-Areal in Visp, das wir umrundeten. Geisterhaft zischten und stampften Maschinen. Aus einem mächtigen Kamin züngelte eine rätselhafte Flamme etliche Meter hoch in den Nachthimmel. Die meisten Gebäude waren zwar innen beleuchtet, die Gründe dafür blieben jedoch schleierhaft, denn nirgends war ein Mensch zu sehen.
Vollends schräg geriet die Passage nach Raron. Wir unterquerten Bahngeleise, umrundeten eine gewaltige Abwasserreinigungsanlage, stiegen über Leitplanken und erreichten schliesslich eine Autobahnzufahrt. Die von meterhohen Betonwänden eingefasste Rinne war noch verkehrsfrei, denn an der Piste wird zwar gefühlt seit Jahrzehnten gebaut, doch ein Ende der Arbeiten ist noch immer nicht absehbar. Wir marschierten auf einem funkelnagelneuen, zwei Dutzend Meter breiten Asphaltband, das mit sämtlichen Schikanen wie Leitplanken, Farbmarkierungen und Signalisationstafeln voll ausgestattet war. Nach und nach schwanden jedoch all diese Strassenmöblierungen. Irgendwann hörte sogar der Asphalt auf und wir stapften auf Kiesbändern mit Regenpfützen dahin. Der krönende Höhepunkt stand uns jedoch noch bevor: Wir gelangten zu einem fixfertig ausgebauten Tunnel, der zwar bereits mit Neonlampen ausgeleuchtet war, doch dem Autoverkehr noch nicht zur Verfügung stand. Auf der Umfahrungsstrecke unterquerten wir das Dorf, nahmen dann die Ausfahrt und spazierten zwischen Hauptstrasse und Gewerbezone zum Bahnhof.