Mehr als drei Jahrzehnte lag dieses Werk in einer Schublade der Autorin, ehe sie sich, wenige Jahre vor ihrem Tod, zu dessen Publikation durchringen konnte. Die lange Reifedauer hat ihm in keiner Weise geschadet – «Der lebende Berg» ist ein zeitloses Meisterwerk. Heute gilt es als Nan Shepherds bedeutendstes Buch.
Die Autorin wurde in Aberdeen geboren, unterrichtete dort an einer Lehrerbildungseinrichtung und verbrachte auch den grössten Teil ihres Lebens in dieser Stadt. Dass sie unverheiratet blieb, wird auf den hohen Blutzoll zurückgeführt, den der Erste Weltkrieg unter der männlichen Bevölkerung ihrer Generation forderte. Eine unglückliche Liebesaffäre mit einem verheirateten Mann bewältigte sie laut ihrer Biografin Charlotte Peacock damit, dass sie sich lyrischem Schaffen zuwandte und eine von Mystik geprägte Beziehung zur Natur aufbaute.
In diesem Licht ist «Der lebende Berg» zu sehen. Das Werk ist eine Annäherung an die Landschaft der Cairngorms, eines Gebirgsmassivs im Norden der britischen Insel, das im Vergleich etwa zu den Alpen zwar nur bescheidene Höhen erreicht, jedoch wegen seiner Lage weit nördlich in Europa über ein geradezu arktisches Klima verfügt.
Das Buch ist weder Sachbuch noch Roman oder Erzählung, sondern eine Verbindung von allem, die obendrein von poetischen und philosophischen Aspekten durchzogen ist – eine Art belletristischer Essai. Beispielhaft zeigt sich das etwa an folgender Passage: «Am meisten schwelgen die Berge in Blau, wenn Regen in der Luft liegt. Dann sind die tiefen Rinnen violett, Enzian und Rittersporn-Schattierungen, voller Feuer, verbergen sich in den Spalten.»
Nan Shepherd erweist sich als eine überaus genaue Beobachterin. Was sie sieht, hört, fühlt, riecht und schmeckt, schildert sie so präzise, dass man die Naturwelt, durch die sie sich bewegt, förmlich greifbar vor sich zu sehen glaubt. Ihre Wiedergabe ist jedoch nicht von öder Lust am Detail durchzogen; vielmehr bettet sie ihre Eindrücke in inneres Erleben ein. Als Erlebende nimmt sie in dieser Naturpoesie deshalb eine zentrale, jedoch nicht dominante Position ein.